Blick in das Projekt

Entwicklung und Erprobung eines zivilgerichtlichen Online-Verfahrens

Wie reicht man eine Klage ein? Gibt es Alternativen? Und was genau ist ein Gerichtskostenvorschuss? Diese und weitere Fragen stellen sich Bürger:innen früher oder später, wenn sie ein Rechtsproblem haben. Sie stehen dann verschiedenen Hürden gegenüber, wie komplexen Formalien, schwer kalkulierbaren Kostenrisiken oder fehlenden Informationen zum Ablauf von Verfahren. Gleichzeitig bedeuten die Kommunikation und Interaktion mit Bürger:innen für die Gerichte einen hohen Ressourcen­aufwand.

In diesem Beitrag beschreiben wir, welche Erkenntnisse wir aus der Nutzerforschung gewonnen haben, welchen Fokus unsere erste minimal funktionsfähige Produktversion (Minimum Viable Product - MVP) haben wird, wie wir unser Projekt in Vorhaben der Justiz-IT-Landschaft einordnen und wie unsere konkreten nächsten Schritte in der Produktentwicklung aussehen.

Erkenntnisse aus dem User-Research

In unserem Projekt ist es uns besonders wichtig, nutzerzentriert vorzugehen. Wir wollen genau verstehen, welche Herausforderungen Bürger:innen und Justiz bewältigen müssen. Um die Probleme und Herausforderungen unserer Zielgruppen besser zu verstehen und objektiv und vielseitig zu betrachten, kombinieren wir verschiedene Methoden. Deshalb haben wir zahlreiche qualitative Interviews mit verschiedenen Beteiligten geführt und betreiben Sekundärforschung zu ausgewählten Themen.

Dazu gehören u.a. die Recherche und Analyse von:
Um den Fokus für unser MVP weiter zu definieren, haben wir zahlreiche Interviews geführt, z.B. mit Mitarbeitenden unserer Partnergerichte, Bürger:innen, Expert:innen im Bereich der Modernisierung des Rechts, Anwält:innen, Interessenvertretungen und weiteren Personen aus der Justiz. Die Gespräche haben uns dabei geholfen, die Bedürfnisse von Bürger:innen und Justiz besser zu verstehen.

Die Erkenntnisse aus dem User-Research haben gezeigt: Für Bürger:innen gibt es vielfältige Hürden, die einen bürgerfreundlichen Prozess erschweren. Das bestätigen auch die Gespräche mit den Gerichten.

Zu den Hürden zählen unter anderem:
  • Bürger:innen kennen ihre Handlungsmöglichkeiten nicht.
  • Bürger:innen finden sich nicht am Gericht zurecht. Intransparente Abläufe und die juristische Fachsprache erschweren eine Orientierung.
  • Bürger:innen scheuen den Zeitaufwand.
  • Es gibt verschiedene organisatorische Aufwände für Bürger:innen, wie Probleme bei der Terminfindung, schwieriger Zugang zur Beratung oder die Dauer eines Verfahrens.
  • Es besteht ein Machtungleichgewicht zwischen Bürger:innen und Rechts-Profis.
Für die Mitarbeitenden in den Gerichten bedeutet die Beteiligung von Bürger:innen in der Praxis häufig einen Mehraufwand. Den Gerichten begegnen darüber hinaus zahlreiche weitere Herausforderungen, etwa bei Belastung durch Massenverfahren wie im Bereich der Fluggastrechte.

Mit unserem MVP wollen wir die Rahmenbedingungen so verbessern, dass Bürger:innen und die Justiz davon profitieren:
  • Bürger:innen starten besser informiert und digital in die Prozesse und erhalten Hilfe bei der Erstellung der Klageschriften.
  • Die Justiz erhält besser strukturierte Klageschriften und interagiert mit besser informierten und digital erreichbaren Bürger:innen.

Schrittweise Entwicklung eines MVP

Ein MVP ist der erste Entwicklungsschritt eines Produkts, das im Idealfall schon ein zentrales Problem für die Zielgruppe löst. Vor allem hilft es uns dabei, so früh wie möglich für die weitere Produktentwicklung zu lernen und Erkenntnisse aus Nutzendenfeedbacks zu gewinnen. So verhindern wir, dass wir an den Bedürfnissen von Bürger:innen und der Justiz vorbei entwickeln. Am Ende kann dann ein Produkt entstehen, das einen echten Mehrwert für die Zielgruppen stiftet und die Verfahren für alle Beteiligten vereinfacht.

In der ersten Version unseres digitalen Produkts konzentrieren wir uns auf einen kleinen Teil im Verlauf eines Verfahrens: Die Phase vor der Einreichung einer Klage und die Klageeinreichung an sich. 

Für Bürger:innen bieten wir vor der Einreichung einer Klage ein leicht verständliches Informationsangebot mit einem Vorab-Check an. Mit dem Vorab-Check wollen wir die Grundvoraussetzungen zum Einreichen einer Klage vermitteln und durch erste Fragen die Rahmenbedingungen abfragen. Nutzer:innen sollen hier schnell und einfach herausfinden können, ob ihr Rechtsproblem die Voraussetzungen erfüllt, um zu einer Klage zu werden. Ziel ist es, dass Bürger:innen kein Klageverfahren starten, wenn ihr Fall dafür gar nicht passend ist.

Im zweiten Schritt zeigen wir den Bürger:innen ihre Handlungsoptionen auf Basis des Vorab-Checks auf – auch Optionen, die eben nicht die Klage selbst sind, wie zum Beispiel Schlichtungsverfahren. An dieser Stelle wollen wir bei den Bürger:innen ein Verständnis dafür schaffen, was eine Klage für sie wirklich bedeutet und welche Risiken sie eventuell birgt.

Wenn ein/e Bürger:in sich danach für eine Klage entscheidet, geht es mit der strukturierten Abfrage der relevanten Daten und dem digitalen Einreichen einer Klage weiter. Wir wollen unsere Pilotgerichte dabei befähigen, diese Daten strukturiert zu empfangen und adäquat weiterzuverarbeiten.

Aktueller Fokus: Fluggastrechte

Wir fokussieren uns zunächst auf ein digitales Eingabesystem für Zahlungsklagen im Bereich der Fluggastrechte. Wir haben diesen ersten Anwendungsfall ausgewählt, da Klagen in diesem Bereich bei unseren Pilotgerichten ein hohes Vorkommen haben (Massenverfahren). Flug­gastrechte betreffen oftmals standardisierbare Fallgestaltungen, die sich gut dafür eignen, zivilgerichtliche Online-Verfahren zu erproben.

Auf der Website service.justiz.de haben wir im Juli 2024 in einem ersten Schritt ein leicht verständliches Informationsangebot rund um das Thema Fluggastrechte live gestellt. Mit dem Vorab-Check können sich Bürger:innen schnell und einfach über Voraussetzungen für eine Entschädigung bei Flugverspätung, Annullierung oder Nichtbeförderung informieren. Außerdem zeigt das Tool nach der Beantwortung einiger Fragen, in welcher Höhe eine Ausgleichszahlung unter Berücksichtigung des angegebenen Start- und Zielflughafens infrage kommen könnte. Die Website zeigt Bürger:innen dann mögliche Handlungsoptionen auf Basis des Vorab-Checks auf. 

Das Projektteam tauscht sich regelmäßig mit der Arbeitsgruppe AG IT-Standards der Bund-Länder-Kommission für Informationstechnik in der Justiz (BLK) aus, u.a. hinsichtlich der Definition von XJustiz-Datensätzen für Klagen aus dem Bereich der Fluggastrechte.

Einordnung in die Justiz-IT-Landschaft

Wir wollen mit unserem MVP auf vorhandene Schnittstellen und Produkte aufbauen.

Folgende Aspekte prägen unter anderem den Rahmen unseres Projekts:
  • Der elektronische Rechtsverkehr ist aktuell der zentrale Zugang in die Justiz-IT-Landschaft.
  • Das neue „Mein Justizpostfach” (MJP) reiht sich in die Landschaft der Postfächer ein, die einen Zugang zur Justiz – u.a. für Bürger:innen – bieten.
  • Blick in die Zukunft: Wir schauen uns schon jetzt an, welche Lösungen zukunftsfähig oder auch visionär sind. Gleichzeitig möchten wir pragmatisch schon HEUTE eine Lösung schaffen, die sich in den Arbeitsalltag und damit in die bestehende IT-Landschaft der Justiz einfügt.

Zusammenarbeit mit den Ländern

Gemeinsam mit unseren Partnerländern und pilotierenden Gerichten haben wir eine fachliche Prüfung unseres Prototypen durchgeführt. Auf Basis der Erkenntnisse entwickeln wir diesen weiter. Dabei findet ein kontinuierlicher Austausch zwischen allen Projektbeteiligten statt.

Unsere nächsten Schritte

Als nächsten Schritt planen wir den Launch eines digitalen Eingabesystems zur Erstellung und Einreichung einer Klage im Bereich der Fluggastrechte. Hierzu arbeiten wir aktuell eng mit unseren Expert:innen an den pilotierenden Gerichten zusammen, um die Abfrageinhalte zu konkretisieren und rechtssicher auszugestalten. Zugleich führen wir regelmäßige Nutzer:innen-Tests zu den Eingabe- und Abfragesystemen durch.

Neben dem Bereich Fluggastrechte wollen wir digitale Eingabesysteme für allgemeine Zahlungsklagen in der Zuständigkeit der Amtsgerichte bereit­stellen. Auch diese werden in Zusammenarbeit mit den am Projekt beteiligten Gerichten ausgearbeitet und geprüft. Hier erfolgt keine Begrenzung auf bestimmte Anspruchsgrundlagen, sodass der Zugang zu den pilotierenden Amtsgerichten für sämtliche Geldforderungen erleichtert werden kann. 

Das Online-Angebot richtet sich zunächst an Bürger:innen ohne anwaltliche Vertretung. Perspektivisch soll auch die Anwaltschaft angebunden werden. Hierzu stehen wir mit der Anwaltschaft im Austausch.

Daneben ist geplant, rechtliche Rahmenbedingungen für ein zivil­gerichtliches Online-Verfahren zu schaffen („Erprobungsgesetzgebung”). Dabei soll mit der Einreichung von Klagen über digitale Eingabesysteme das digital unterstützte Zivilverfahren an einzelnen Gerichten als neue Verfahren­s­art in der Zivilgerichtsbarkeit eröffnet werden. Ein Referentenentwurf für die Erprobungsgesetzgebung (Entwurf eines Gesetzes zur Entwicklung und Erprobung eines Online-Verfahrens in der Zivilgerichtsbarkeit) wurde im Juni 2024 veröffentlicht.

Im Entwicklungsprozess werden wir das Produkt nach und nach erweitern und iterieren. Unser langfristiges Ziel ist ein vollständig digitales zivil­gerichtliches Verfahren. Mit unseren ersten gelaunchten Onlinediensten wollen wir mit Bürger:innen und unseren Projektpartner:innen im Pilotbetrieb erproben und lernen, was es braucht, um dieses Ziel zu erreichen.

Die Onlinedienste des zivilgerichtlichen Online-Verfahrens und der digitalen Rechtsantragstelle werden zentral über die Webseite service.justiz.de bereitgestellt. Das Angebot soll perspektivisch als Bestandteil eines Bund-Länder-Justizportals für Onlinedienstleistungen ausgestaltet werden.

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