Onlinedienste inklusiver gestalten: unsere Nutzendenforschung zur Barrierefreiheit

In den Projekten „Digitale Rechtsantragstelle“ und „Zivilgerichtliches Online-Verfahren“ entwickeln wir gemeinsam mit Partnerländern und Pilotgerichten nutzendenfreundliche Onlinedienste für die Justiz. Das große Ziel ist es, den Zugang zum Recht für alle Bürger:innen zu verbessern. Um das zu erreichen und Dienste zu entwickeln, die Bürger:innen tatsächlich gut nutzen können, führen wir regelmäßig Usability-Tests durch. Dabei legen wir unter anderem einen Fokus darauf, dass unsere Dienste für alle Bürger:innen funktionieren – auch für Personen, die Beeinträchtigungen haben oder assistive Technologien nutzen.

Barrierefreiheit ist ein projektübergreifendes Thema für unser Team, da wir unsere Onlinedienste auf der gemeinsamen Website service.justiz.de zur Verfügung stellen. In diesem Beitrag teilen wir Erkenntnisse aus Usability-Tests zur Barrierefreiheit mit zwei Nutzendengruppen.

Auswahl der Nutzendengruppen für die Usability-Tests

  • Zivilgerichtliches Online-Verfahren (Fluggastrechte)

Um die Barrierefreiheit unseres Onlinedienstes zu überprüfen, wollten wir zunächst Tests mit Personen durchführen, die assistive Technologien nutzen. Wir haben mit Personen begonnen, die aufgrund visueller Einschränkungen Screenreader-Programme verwenden. Bei diesen Programmen ist die Nutzung der Tastatur zur Navigation im Onlinedienst notwendig. Daher konnten wir in den Tests auch Erkenntnisse für weitere Nutzendengruppen sammeln, die beispielsweise vor allem mit der Tastatur statt einer Maus navigieren.

Insgesamt haben wir mit fünf Personen getestet, davon waren vier Screenreader-Nutzende und eine Person, die die Windows-Bild­schirmlupe mit invertierter Farbe verwendet. Die Teilnehmenden sind aufgabenbasiert durch den Vorab-Check für Fluggastrechte gegangen und haben eine Klage erstellt. Bei der Durchführung und Moderation der Tests hat uns das Unternehmen DIAS unterstützt.

  • Digitale Rechtsantragstelle (Beratungshilfe)

Ziel der Usability-Tests war es, den Einstieg in unseren Service für Beratungshilfe mit Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zu testen (Startseite, Beratungshilfe-Seite, Leichte Sprache-Seite, Vorab-Check). Wir wollten herausfinden, ob Menschen mit neurodiversen Einschränkungen den Onlinedienst für Beratungshilfe verstehen.

Mit sechs Personen haben wir Usability-Tests durchgeführt. Unterstützt haben uns dabei Leicht-Online (methodische Unterstützung bei den ersten Interviews) und Mosaik (Zugang zur Nutzendengruppe).

Was wir in den Tests gelernt haben

Nutzendengruppe: Personen mit Sehbeeinträchtigung

Hier haben wir vor allem Designkomponenten, die technische Umsetzung und die Bedienbarkeit mit Screenreader-Programmen getestet.

1. Bezeichnungen für Navigations- und Orientierungsmuster

In den Tests hatten die meisten Nutzenden Probleme dabei, sich mithilfe unserer Navigationselemente zu orientieren. Grund dafür waren nicht eindeutig bezeichnete Komponenten. Screenreader-Programme lesen sowohl den von uns definierten Namen einer Komponente als auch deren Rolle vor. Dabei gab es teilweise Dopplungen und irreführende Bezeichnungen. Ein Navigationselement, das Nutzenden dabei hilft, schnell zu vorherigen oder höheren Ebenen der Seitenstruktur zurückzukehren, wurde vom Screenreader beispielsweise als „Breadcrumb, Navigation“ vorgelesen. Für die deutschsprachigen Testpersonen war diese Bezeichnung aber verwirrend. Um dieses Problem zu beheben, haben wir den Titel für das Navigationselement zu „Seitenpfad“ übersetzt. Durch den Test haben wir gelernt, dass wir jedem Navigationselement der Seite einen eindeutigen Namen geben müssen. Das hilft Personen mit Seheinschränkungen dabei, sich besser auf der Seite zurechtzufinden.

2. Interaktionsmuster

Unsere Testpersonen hatten keine Probleme mit einfachen Interaktions­komponenten wie Klicks auf Buttons oder Links. Für die barrierefreie Gestaltung dieser Interaktionen gibt es bereits Leitfäden aus der Praxis, an die wir uns halten können bzw. sind diese schon in HTML definiert. Daher können wir die barrierefreie Gestaltung leicht sicherstellen.

Andere Komponenten, wie die automatische Vervollständigung von Texteingabefeldern, sind aus technischer Sicht komplexer. In den Tests hat sich gezeigt, dass diese nicht mit allen Screenreader-Programmen gleicher­maßen gut funktionieren. Für die barrierefreie Umsetzung dieser Interaktions­muster müssen Produktteams viele verschiedene Aspekte beachten, z. B. beim Design und der Programmierung. Oft wird ein Aspekt bei der Entwicklung übersehen, wodurch Screenreader-Nutzende ausgeschlossen werden können. In unserem Fall ist die automatische Vervollständigung von Texteingabefeldern, die wir im Vorab-Check für Fluggastrechte verwenden, schon größtenteils barrierefrei. Eine interessante Erkenntnis in den Tests war aber, dass Teilnehmende bei der Erläuterung der Komponente erwartet haben, dass sie diese nicht verwenden können. Sie sind es von zahlreichen Diensten gewohnt, enttäuscht zu werden und waren in unserem Test positiv überrascht.

Der Test hat uns gezeigt: Nicht alle Interaktionsmuster funktionieren für alle Personen gleich gut. Einerseits helfen komplexe Interaktionsmuster wie die automatische Vervollständigung von Texteingabefeldern vielen Nutzenden. Für Personen, die auf unterstützende Technologien angewiesen sind, können sie aber problematisch sein, wenn sie falsch umgesetzt sind. Als Entwicklungs­team müssen wir bei diesen Komponenten daher achtsamer für die Bedürfnisse verschiedener Nutzendengruppen sein als bei einfachen Komponenten.

3. Seitenstrukturierung

Screenreader-Nutzende verschaffen sich vor allem anhand der Überschriften einen Überblick auf der jeweiligen Seite. Daher ist es wichtig, auf jeder Seite eine logische Struktur der Überschriften zu haben.

Am Ende des digitalen Eingabesystems der Fluggastrechte-Klage gibt es eine Zusammenfassungsseite, auf der die im Formular angegebenen Informationen als Überschrift (<h3>) formatiert angezeigt waren. Die Liste der Überschriften war dadurch sehr lang und die Teilnehmenden der Tests haben die Seite als überfordernd bewertet. Um die Nutzung mit Screen­reader zu vereinfachen, haben wir die Überschriften auf der Seite jetzt als Beschreibungsliste-Elemente (<dl>, <dt>, <dd>) definiert.

Nutzendengruppe: Personen mit kognitiven Beein­trächtigungen

Hier haben wir vor allem getestet, ob die Inhalte für Nutzende verständlich sind und ob die Navigation innerhalb des Onlinedienstes für sie funktioniert.

1. Eine inklusive Sprache ist unabdingbar

Die digitale Rechtsantragstelle hat aufgrund ihrer Nutzendengruppe eine besonders hohe Anforderung an Barrierefreiheit und einem inklusiven Sprachangebot. Die Verwendung von einfacher Sprache, eindeutigen Erklärungen und Beispielen in den Onlinediensten ist essenziell, damit Bürger:innen diese gut nutzen können. Komplexe Begriffe und rechtliche Formulierungen erschweren das Verständnis für viele Nutzende (z. B. Rechtsschutzversicherung).

2. Angebot in „Leichter Sprache“ und Gebärdensprache

Die Möglichkeit, auf der Website zwischen Leichter Sprache, Gebärden­sprache und der Standardversion zu wechseln, wurde von allen Testpersonen gefunden und genutzt. Der Wechsel zu den Seiten in Leichter Sprache oder Gebärdensprache erfolgte problemlos. Vereinzelt wurde das Angebot allerdings von der Nutzendengruppe selbst als irrelevant bewertet. Aus einem Expertengespräch mit den Projektverantwortlichen von „LeichtOnline“ haben wir gelernt, dass diese Aussage häufig aufgrund von sozialer Erwünschtheit oder Schamgefühl getroffen wird. Im „echten“ Alltag der Personen werden die Angebote jedoch gern genutzt.

Teilweise irritierte es die Nutzenden, dass die Inhalte auf der Seite „Leichte Sprache” nur den Hintergrund der Seite erklärten, nicht jedoch die Inhalte der Seite, von der sie gekommen sind. Wir planen aber bereits, weitere Inhalte in Leichte Sprache zu übersetzen. 

Auch die gewählte Bildsprache bzw. Illustrationen, die die Leichte Sprache ergänzen, haben teilweise irritiert. Für einige Testpersonen war nicht eindeutig, was genau in der Illustration hervorgehoben wird (Mehrdeutigkeit).

3. Schwierigkeiten mit Navigation und Orientierung

Die Nutzenden hatten Probleme, relevante Informationen auf der Website zu finden. Der Zusammenhang zwischen den Voraussetzungen (Vorab-Check) und der Antragstellung war für einige Testpersonen nicht verständlich. Sie hatten das Bedürfnis, klar durch den gesamten Prozess geleitet zu werden.

Die Fortschrittsanzeigen im Antragsflow wurden positiv bewertet, jedoch fehlte oft die Angabe, wie viele weitere Schritte noch folgen. Hier wäre eine klare Struktur, z. B. mit zentralen Kategorien oder einer Schritt-für-Schritt-Anleitung hilfreich.

4. Herausforderungen bei der Nutzung des Vorab-Checks für Beratungshilfe

Unverständliche Ablehnungsgründe, z. B. bei einem negativen Ergebnis im Vorab-Check für Beratungshilfe, haben die Nutzenden frustriert. Sie wünschen sich detailliertere Begründungen und Hinweise zu fehlenden oder fehlerhaften Angaben. Außerdem gab es Unsicherheiten über Einkommensgrenzen und andere Voraussetzungen für die Beratungshilfe.

5. Bedarf an individueller Unterstützung und direktem Kontakt

Einige der Gesprächspartner:innen haben erzählt, dass sie telefonische oder persönliche Beratung bevorzugen, insbesondere bei komplexen Fragen. Unterstützung durch Betreuer:innen oder Hilfspersonen ist erwünscht und wird teilweise als notwendig empfunden, um das digitale Angebot zu nutzen.

Ausblick: Wie wir in diesem Jahr weiter­machen

Wir planen für 2025 weitere Nutzendengruppen in Usability-Tests einzubeziehen:

Digitale Rechtsantragstelle:

  • Weiterer Fokus auf Personen mit kognitiven Einschränkungen und Lernschwächen
  • Ggf. wollen wir persönliche Assistent:innen von Menschen mit kognitiven Einschränkungen in Tests einbeziehen

Zivilgerichtliches Online-Verfahren:

  • Weiterer Fokus auf Personen, die unterstützende Technologien verwenden, um mehr über die Nutzung von Personen mit verschiedenen Einschränkungen zu lernen
  • Für die Kommunikationsplattform: Tests mit älteren und digital weniger affinen Personen.

Unsere ersten Usability-Tests haben gezeigt: Wir sind schon auf dem richtigen Weg, denn viele unserer Maßnahmen haben bereits Ergebnisse erzielt. So sagte eine Testperson uns u.a.: „Denjenigen, die das umgesetzt haben, herzlichen Glückwunsch! Das haben Sie toll gemacht, ich hoffe, Sie bekommen noch weitere Aufträge, um das so gut umzusetzen.“

Dennoch ist Barrierefreiheit ein Thema, das wir kontinuierlich auf der Agenda haben und weiter verbessern müssen.

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